
Die
" kleinen Mittel"
Fragen an Dr. Massimo Mangialavori von Rainer Giolas
Nachdem
Dr. Massimo Mangialavori 1993 zum erstenmal in Berlin als Dozent in Erscheinung
trat, wurde er sehr schnell bekannt und es folgten Einladungen und Seminare
weltweit. Dr. Mangialavoris Erkenntnisse beruhen zum großen Teil
auf eigenen Beobachtungen, die er mit großer Ruhe und Geduld vermitteln
kann. (...)
Dr. Mangialavori lebt in Solignano (Norditalien). Seine ureigenen Seminare
finden alljährlich auf Capri statt, er lehrt jedoch auch in Amerika,
Deutschland, Israel, Holland und Großbritannien.
Dr. Mangialavori, was verstehen Sie unter
dem Begrifff "kleine Mittel?"
Ich mag den Begriff "kleine Mittel" nicht sehr, ich denke, er
ist nicht korrekt. Ich hege die Ansicht, daß in unseren Repertorien
und Arzneimittellehren eine Anzahl Mittel präsentiert werden, die
wir besser kennen als andere. Einige kennen wir wenig, einige zu wenig,
andere hingegen sind gut bekannt, werden aber nicht mehr genutzt. Und
wieder andere sind gut bekannt, wurden aber nie nach ihren tatsächlichen
Möglichkeiten genutzt. Wenige von diesen Arzneien, eigentlich sehr
wenige, haben mit der Zeit aus verschiedenen Gründen den Teil der
Mittel übernommen, die zu häufig und auch unkorrekt angewendet
werden - die Polychreste. Von diesen meinen wir, vielleicht genug zu wissen
und haben eine Vielfalt klinischer Informationen; und trotzdem, diese
Mittel werden in einer Art und Weise verabreicht, die sehr vage und nicht
akkurrat ist.
Der
Begriff "kleine Mittel" heißt also nicht etwa, daß
wir über ein Gruppe von Mitteln reden, die klein in ihrer Wirkung
sind?
In der Tat glaube ich das nicht. Ich denke, es gibt viele Gründe,
die einige Kollegen im Lauf der Zeit dazu geführt haben, eine derartige
Hypothese zu erstellen. Vor allem hat sich seit dem Zeitalter der Aufklärung
ein großer Teil des medizinischen Denkens weiter und weiter abgekehrt,
hin zu einem "reduzierten Modell". Viele Homöopathen haben
sich dieser Gedankenrichtung angepaßt und gelangten so zu einer
derzeit stark reduzierten und gefilterten Anzahl an Arzneimitteln. Es
ist ohne Zweifel offensichtlich einfacher, Hypothesen aufzustellen, die
darauf abzielen, zu zeigen, warum eine bestimmte Therapie nicht wirkt,
als einzugestehen, das das Verschreiben eines bestimmten Mittels vielleicht
nicht das Bestmögliche war. Außerdem sind wir davon ab, die
Homöopathie wie früher zu praktizieren, als nur wenige Mittel
gebräuchlich waren und nur ein begrenztes Repertorium zur Verfügung
stand. Das Repertorium wurde mittlererweile durch ständige Nutzung
und Anwendung erweitert. Das erlaubt den Homöopathen, weitere Möglichkeiten
auf der Basis der beobachteten Symptome zu nutzen, anstatt sich nur auf
die eigene Erfahrung zu beschränken. Eine andere Begrenzung lag,
vielleicht nicht ganz bewußt, in der geringen Anzahl von Arzneimitteln,
die sich in den meisten Fällen, in der Apotheke der Homöopathen
befanden. Ich glaube, daß auch das dazu beigetragen haben könnnte,
das man sich auf einen kleinen Teil der Mittel beschränkte, insbesondere
bei den Verschreibungen in akuten Fällen. Diese letzte Beobachtung
halte ich für besonders wichtig bei der Bewertung des häufigen
Gebrauchs einiger Mittel, die in akuten Fällen verschrieben werden.
In der Tat hat auch das Übermaß der repertorialen Symptome
dazu beigetragen, die Polychreste mißzuverstehen, wie es auch dazu
beigetragen hat, die Mittel, deren Symptome im Verhältnis zu den
weniger bekannten Mitteln gut vertreten sind, überzubewerten.
Dann
würde der Begriff "kleine Mittel" auch nicht heißen,
das die Wirkungsweise eherlokal begrenzt ist?
Auch dieses glaube ich nicht. Zumindest entspricht das nicht meiner Erfahrung.
Seit 15 Jahren arbeite ich so, als ob alle Mittel gleich wichtig und effizient
sind. Und ich glaube, daß der einzige Unterschied darin besteht,
daß einige Mittel mehr oder weniger bekannt sind und in der Praxis
mehr oder weniger Anwendung finden.Zu Anfang meiner homöopathischen
Praxis habe ich viele Kollegen und anerkannte Lehrer gehört, die
genau das behaupten, aber ich muß Dir gestehen, daß mich das
nie überzeugt hat. Es erschien mir immer als Widerspruch, daß
auf der einen Seite die umfangreiche Arbeit steht, die Suche nach den
Anwendungsmöglichkeiten der Mittel( =Arzneimittelprüfung)und
auf der anderen Seite dagegen das Einschränken der Möglichkeiten
auf wenige Substanzen. Für mein Dafürhalten ist es jedenfalls
tröstlich, daß bei einigen interessanten Verläufen die
sogenannten "Kleinen Mittel" in eher schweren Fällen verschrieben
wurden, wohingegen nach meiner Ansicht, und der anderer Kollegen, ein
Polychrest weniger gute Resultate erzielt hätte. Meine Erfahrungen
und Erkenntnisse waren mir sehr hilfreich und haben mich dahin gebracht,
eine Methode des Studiums homöopathischer Mittel zu entwickeln, die
es mir erlaubt, bei der Verordnung präziser sein zu können.
Ich arbeite immer ausgehend von der Voraussetzung, daß grundsätzlich
jedes Mittel verschrieben werden kann, ohne mich von Anfang an darauf
zu beschränken,nur wenige Substanzen nutzen zu können. Ich forsche
noch weiter in diese Richtung und denke, daß ich noch einen langen
Weg vor mir habe. Doch ich bin zufrieden mit den Ergebnissen, die ich
erziele. Auch bestärkt es mich darin, weiter zu forschen und zu beobachten,
daß viele Kollegen, die einigen meiner Ansichten folgen, sehr ermutigende
Ergebnisse hervorbringen.
Dann bedeutet der Begriff " kleine
Mittel" demnach eigentlich "nicht gut bekannte Mittel?"
Genau! Das Problem ist, nach welcher Strategie man eigentlich vorgehen
soll, wenn man im praktischen klinischen Alltag zu verordnen hat. Ausgehend
von der Prämisse, daß tatsächlich alle Mittel effizient
sind, müssen wir eine angemessene Forschungsmethode finden, ein Modell,
das uns erlaubt, die Forschungsergebnisse geeignet auszuwerten. Ohne Zweifel
ist die weitere Forschung sehr wichtig und auch hier haben wir noch einen
weiten Weg vor uns. Ich meine, daß auch der beste praktische Versuch
nicht die einzige Möglichkeit ist, gute Informationen über die
Effizienz einer Sache zu erhalten. So habe ich in den letzten Jahren versucht,
Hypothesen zu erstellen, die mir erlauben, Mittel aufgrund derjenigen
Informationen zu verschreiben, die mir bis dato vorliegen. Denn wenn man
auf die Prüfungsergebnisse aller Substanzen, die zur Auswahl stehen,
warten würde, müßte man sicher weit länger leben,
als einem möglich ist. Ich meine, es ist in keiner Wissenschaft verboten,
Hypothesen aufzustellen. Das wichtigste dabei ist, diese anhand von Ergebnissen
zu belegen. Deswegen habe ich mich auch immer bemüht, meine Fälle
mit einem langen "follow - up" zu versehen. Ich kann, denke
ich, heute sagen, daß einige meiner Fälle meine Hypothesen
stützen, weswegen ich in diese Richtung weiterarbeite. Zur Zeit habe
ich mehr als 1000 Fälle gesammelt, die mit den Worten der Patienten
selbst dokumentiert sind. Alle diese Fälle weisen ein "follow
- up" von mindestens zwei Jahren auf und das Mittel, welches verwendet
wurde, blieb bei jedem individuell immer das gleiche, ob bei chronischen
oder bei akuten Erfordernissen. Praktisch habe ich in diesen Fällen
nie das Mittel gewechselt, und die Ergebnisse waren sehr gut. Ein Großteil
dieser Fälle wurde mit Hilfe der sogenannten "kleinen Mittel"
geheilt. Diese Fälle sind das Material, das ich in meinen Seminaren
verwende, über die ich meine Bücher und Artikel schreibe, und
woraus ich die Symptome abgrenze, die ich meinem Repertorium hinzufüge.
Selbstverständlich erziele ich nicht bei allen Patienten diese Ergebnisse.
Das heißt, ich möchte nicht behaupten, daß unter allen
Umständen und in jedem Fall nur ein einziges Mittel verschrieben
werden kann. Ich glaube nicht, daß mein Modell vollkommen ist, und
vor allem glaube ich nicht, daß ich alle Patienten, die zu mir kommen,
heilen kann.
Also gibt es eigentlich
keinen Unterschied zwischen einem kleinen Mittel und einem "Polychrest"?
"Ich glaube nicht, daß es einen Unterschied gibt -allenfalls
bezüglich des Namens. Ich glaube, daß das, was wir "Polychrest"
nennen, eine sehr allgemeine Art von Wirkung auf den Organismus darstellt.
Wenn Sie diese Auffassung zum Beispiel vom Standpunkt der Zellpathologie
aus betrachten, verfügt unser Organismus im Grunde nur über
sehr wenige Reaktionssysteme. Und hauptsächlich deshalb sind wir
der Ansicht, daß die sogenannten mentalen Symptome für die
Erstellung einer Differentialdiagnose spezifischer sind als die somatischen
Symptome. Die Ausdrucksmöglichkeiten dessen, was wir Geist nennen,sind
sehr viel deutlicher gegliedert und viel komplexer als diejenigen Symptome
einer Entzündung oder eines Abszesses. Ich bin der Ansicht, daß
die Polychreste bis heute übermäßig angewendet worden
sind. Ich denke, daß eines der Hauptprobleme der Homöopathie
darin liegt, daß wir nicht über ein gemeinsames Beobachtungssystem
verfügen, und daß wir jede beliebige Form der Verschreibung
eines homöopathischen Heilmittels "Homöopathie" nennen.
Ich glaube nicht, daß die Dinge anders liegen. Für die Ausübung
einer guten Homöopathie genügt es nicht, ein homöopathisches
Heilmittel zu verschreiben. Ich finde, daß wir insbesondere heutzutage
feststellen können, daß es viele unterschiedliche Arten gibt,
Homöopathie zu praktizieren. Es gibt viele Arten, zu denken und die
Ergebnisse zu analysieren, zu denen wir durch die Verschreibung eines
homöopathischen Mittels kommen. Allem zugrunde liegt der homöopathische
Gedanke mit dem Ähnlichkeitsgesetz, aber es ist sehr wichtig zu bestimmen,
welche Ähnlichkeitsebene wir beim Erstellen einer Diagnose und beim
Betrachten der erzielten Ergebnisse im Auge haben.Ich kann Dir ein Beispiel
dafür anführen: Wenn Du bei einem Trauma Arnica verabreichst,
erzielst Du fast immer ein gutes Ergebnis, und das ist dann eine gute
Verordnung. Das bedeutet aber nicht, daß der Fall, den Du vor Dir
hast, notwendigerweise ein gänzlicher Arnica - Fall ist: ein Fall
nämlich, in dem Arnica außer auf das Trauma auch in komplexerer
Weise auf tieferliegende Symptome des Patienten wirken kann. Folglich
ist Arnica in dieser Situation also eine gute Verordnung, wenn unser Beobachtungsmuster,
sagen wir, vordergründig ist. In der Vergangenheit gestaltete sich
das Konzept von Gesundheit, die Erwartungen der Ärzte und die Hoffnungen
der Patienten sehr viel anders als heute, wobei wir uns aber auch in der
heutigen Zeit immer vergegenwärtigen sollten, was wir mit unserer
homöopathischen Medizin erreichen können. Bei einer Epidemie
beispielsweise sind wir bei fünfzig Patienten, die wir am Tag untersuchen
müssen, gezwungen, ein oberflächliches Muster anzuwenden; dies
bedeutet jedoch nicht etwa, schlechte Arbeit zu leisten. Das Wichtigste
ist, zu wissen, was man denn eigentlich tut. Ich kenne viele Kollegen
der Veterinärmedizin, die sehr gute Arbeit leisten, und die im Grunde
nichts besser machen könnten bei einem Stall mit hundert Kühen,
um die sie sich zu kümmern haben. Die Frage ist dann aber eine völlig
andere, wenn wir Zeit haben, mit unserem Patienten mehr in die Tiefe zu
arbeiten. Und die Frage ist dann eine andere, wenn unsere Verordnung nicht
wirksam war und wir vor einer schweren und komplexen Differentialdiagnose
stehen. Ich denke, daß unsere Kollegen in der Vergangenheit hauptsächlich
mit einem Konzept von Gesundheit gearbeitet haben, das weniger komplex
als das heutige war. Ich glaube, daß das, was wir Polychrest nennen,
in Wirklichkeit eine sehr allgemeine Art und Weise ist, auf ein bestimmtes
Mißbefinden einzugehen, eine Art Strategie, die vielen Substanzen
gemeinsam ist, und von denen das sogenannte Polychrest die bekannteste
Substanz der Homöopathie darstellt, aber nicht notwendigerweise die
wichtigste oder die wirkungsvollste. Oft müssen wir dort, wo Arnica
nicht wirkt, Heilmittel wie Bellis perennis, Calendula, Millefolium, Erigeron
und viele andere in Betracht ziehen. Zu meinen, daß die Differentialdiagnose
auf der bloßen Tatsache beruht, daß der Patient mehr oder
weniger blutet, oder daß das betroffene Gewebe vorwiegend Nerven-
oder Muskelgewebe ist - so einfach ist die Sache nicht. Im Falle von Lachesis
zum Beispiel sind die Symptome, die wir für dieses Arzneimittel als
charakteristisch betrachten, oft Symptome, die für alle Schlangen
charakteristisch sind. Und nur einige davon sind wirklich charakteristisch
für Lachesis, während andere es für Elaps sind oder für
Naja oder für Vipera oder Crotalus oder Zincum phosphoricum. Fakt
ist, daß Lachesis oft aufgrund eines Reduktionsmodells und unter
einer nur oberflächlichen Beobachtung der mit diesem Mittel behandelten
Patienten angewandt worden ist. Im Laufe der Zeit haben nun Symptome in
das Repertorium und die Materia Medica mit Symptomen Eingang gefunden,
die von anderen Schlangen oder anderen korrelierenden Heilmitteln herrühren.
Dies sind die "klein"gebliebenen Mittel, die sich nicht, wie
es bei Lachesis der Fall war, zu sehr aufgebläht haben. Ich denke,
daß dieser Vorgang für alle sogenannten Polychreste der gleiche
ist.
Dann sind Sie der Ansicht, daß Polychreste
häufig deshalb verordnet werden, weil man sich angewöhnt hat,
zunächst an diese großen Mittel zu denken?
Ja, genau das denke ich, aber nicht nur das. Ich bin der Meinung, daß
viele unserer Theorien -und ich betone ausdrücklich, daß es
nur Theorien sind, und als solche angesehen werden müssen - oft mit
einer Art Doktrin vermengt werden. Vor allem ist es nicht einfach, zu
wissen, was Hahnemann wirklich dachte. Auf jeden Fall war ein genialer
Geist wie der seine bis ans Ende seiner Tage fähig, das, woran er
glaubte,auch zu erproben. Aus diesem Grund meine ich, daß jeder
Begründer einer Bewegung der Initiator einer Denkrichtung ist, die
in den nachfolgenden Jahren von seinen Schülern weiterentwickelt
werden muß. Nach meinem Eindruck dienen die Theorien, die wir aufstellen,
oft zur Rechtfertigung unserer Mißerfolge, wo es doch viel einfacher
wäre, zuzugeben, daß wir über unsere Arzneimittel tatsächlich
noch so viel zu lernen haben. Vielleicht ist an einem schlechten Behandlungsergebnis
nicht der viele Kaffee schuld, den der Patient trinkt, sondern die ungenaue
Verordnung.
Wenn wir ein gut bekanntes Mittel nehmen,
wie zum Beispiel "Pulsatilla", dann haben wir bestimmte Gemütssymptome,
die man gut erkennen kann.
Finden wir unter den "kleinen" Mitteln ebenfalls Charaktereigenschaften,
die uns dabei helfen können, das Mittel dem Patienten zuzuordnen?
Ganz gewiß! Ich bin der Meinung, daß jede Substanz ihre spezifischen
Charakteristika hat. Die Tatsache, daß ich gern die Arzneien in
"Familien" erforsche, bedeutet ganz und gar nicht, daß
ich es für unwesentlich erachtete, jede Arznei in ihrer Besonderheit
zu unterscheiden. Das Gegenteil ist der Fall. Ich denke, daß eine
Familie von Heilmitteln durch die innerhalb dieser Familie bestehenden
Analogien gekennzeichnet ist, und daß sich dann jedes einzelne Heilmittel
durch seine besonderen Eigenschaften innerhalb dieser Familie unterscheidet.
Im Falle des Beispiels von Pulsatilla glaube ich, daß es ein Gemeinplatz
ist, daß nur Pulsatilla so einfach zum Weinen führt und mit
dem Trost Besserung eintritt. Diese Symptome treffen ohne Zweifel zu,
aber sind sie wirklich so spezifisch, daß man sie nur Pulsatilla
zuordnen kann? Ich glaube nicht, daß das so ist. Meiner Erfahrung
nach sind oft Symptome, die wir als key-notes eines Heilmittels ansehen,
auch anderen, ähnlichen Heilmitteln eigen, während unter anderen
Umständen einige key-notes wirklich nur für ein einziges Heilmittel
spezifisch sind. Oft halten wir key-notes eines Polychrests für einzigartige
Symptome, die aber auch Symptome eines kleinen Mittels sind. Auch Mimosa
oder Viola Odorata oder Cobaltum nitricum haben dieselbe leichte Wirkung
auf das Weinen und führen mit dem Trost Besserung herbei, und zwar
mit einem Verhaltensmuster, das dem von Pulsatilla sehr ähnlich ist.
In jedem Fall glaube ich, daß jedes Arzneimittel sein eigenes charakteristisches
Bild beinhaltet, sowohl bei denjenigen Symptomen, die wir als mentale
Symptome bezeichnen, wie auch bei denen mehr allgemeiner Natur. Es ist
eine Tatsache, daß in der Mehrheit der Fälle die weniger bekannten
Mittel in den Arzneimittellehren und den Repertorien nicht mit einem klaren
Bild davon erscheinen, was wir den "Geist" eines Mittels nennen.
Aber das ist nur deshalb so, weil sie nicht genügend erforscht worden
sind. Es ist das Studium des Arzneimittels, das oft keinen ausreichend
klaren 'mind' hat, und nicht etwa der Patient, der mit diesem Heilmittel
behandelt werden kann. Das sollte uns zu denken geben. Mein Ansatz ist,
wie ich bereits ausgeführt habe, Ähnlichkeitshypothesen zwischen
den verschiedenen Arzneimitteln aufzustellen und dabei möglichst
zu verstehehen, was für die Verschreibung eines Polychrests vorhanden
sein muß. Wenn das, was meiner Meinung nach vorhanden sein müßte,
um ein Polychrest zu verordnen, jedoch nicht vorhanden ist, dann ist dies
schon der Hinweis auf ein Mittel, das ihm ähnlich ist. Danach bestätige
ich solche Hypothesen durch erfolgreich behandelte Fälle und einem
langen follow-up. Meine Informationen erhalte ich von den Patienten, die
ich mit Erfolg behandele. Wenn ich bei mehreren Patienten die gleichen
Symptome vorfinde oder Verhaltensmuster, die bei mehreren Personen vorliegen,
die ich mit der betreffenden Substanz behandelt habe, meine ich, einen
interessanten Teil des Bildes dieser Arznei offengelegt zu haben. Ich
glaube, daß keine medizinische Substanz für sich so präzise
dargelegt werden kann wie es über das Geschehen eines erfolgreich
behandelten Patienten der Fall ist. Niemand von uns kann ein Arzneimittel
besser kennen als der Patient selbst, der es genommen, und gute Ergebnisse
damit erzielt hat. Dennoch scheint mir die am meisten verbreitete Tendenz
dahin zu gehen, daß dem schriftlichen Inhalt der Arzneimittellehren
größere Bedeutung zugemessen wird, anstatt auf das zu hören,
was die Patienten uns sagen. Das Interessante ist nämlich, daß
der größte Teil unserer Bücher Kopien von Kopien anderer
Bücher sind, und daß oft derjenige, der über ein bestimmtes
Arzneimittel schreibt, dieses gar noch nie mit Erfolg verordnet hat. Ein
anderer wichtiger Punkt ist, daß ich nicht glaube, daß die
sogenannten mentalen Symptome wichtiger sind als die physischen Symptome.
Ich finde, daß es sehr wichtig ist, einen deutlichen Unterschied
zwischen den Symptomen des Patienten und den Symptomen des Arzneimittels
zu machen. Es ist einleuchtend, daß jeder Mensch seine eigene, spezifische
Persönlichkeit aufweist; genau so wie es einleuchtend ist, daß
das beste Ergebnis, das man bei einer Therapie erzielen kann, ein Zustand
nicht nur körperlichen Wohlbefindens ist. Aber das, was uns in die
Lage versetzt, die spezifischen Charakteristika eines Arzneimittels zu
erkennen, sind nicht immer und nicht ausschließlich die sogenannten
mentalen Symptome. Die Beschreibung eines homöopathischen Arzneimittels,
wie es aus einer Prüfung hervorgeht, ist nicht die Erklärung,
wie das Heilmittel beschaffen ist, sondern nur ein Aspekt des Phänomens,
wie diese Substanz mit dem Menschen interagiert. In der Durchführung
einer Prüfung stehen wir einem Phänomen gegenüber, nämlich
wie sich diese Substanz darstellt, wenn sie mit dem Menschen in Berührung
kommt. Bei einer Prüfung mit Nux vomica beobachet man logischerweise
als erste Syptome solche, die den Verdauungsapparat belasten, ebenso logisch
ist es bei einer Prüfung mit Anhalonium, zu beobachten, daß
die ersten Symptome den mentalen Bereich betreffen. Das bedeutet aber
nicht, daß Nux vomica keine mentalen Symptome hervorbrächte,
genauso wie es nicht bedeutet, daß Anhalonium keine physischen Symptome
hätte. Es bedeutet lediglich, daß es Arzneimittel gibt, wie
es auch Menschen gibt, die sich auf eine bestimmte Art und Weise darstellen
und nach ihrem Vermögen ihre Symptome aufzeigen. Das Auftauchen eines
bestimmten Bauchschmerzes bedeutet nicht weniger Leiden als es eine Person
mit einer bestimmten Form von Angstzuständen empfindet. Insbesondere
kann ein bestimmter Bauchschmerz spezifischer sein als eine allgemeine
Empfindung von Angst. Meiner Meinung nach ist es für eine gute homöopathische
Verordnung wichtig, folgendes zu erkennen: die Charakteristika, durch
die das Arzneimittel sich darstellt."
Verstehe ich Sie also richtig, das Sie z.
B. Nux vomica aufgrund der physischen Symptome geben würden, ohne
nach einem Gemütssymptom, wie beispielsweise "Reizbarkeit",
zu sehen?
Das hängt vom Fall ab. Ich glaube, es ist wichtig, sich ein Bild
von dem wirklich Wesentlichen eines Arzneimittels zu machen, um es erfolgreich
zu verordnen. Es gibt Situationen, in denen es nicht leicht oder nicht
möglich ist, die charakteristischen Symptome des 'Gemüts' von
Nux vomica zu beobachten. Was ich für wichtig erachte, ist Klarheit
darüber, ob zum Beispiel ein gewisser Typus Aggressivität das
Spezifischste und Notwendigste für die erfolgreiche Verordnung von
Nux vomica ist und wie tief man dabei gehen muß. Es gibt mindestens
zwei Ebenen der Wahrnehmung dessen, was wir meinen, wenn wir Nux vomica
sagen. Es gibt die allgemeine Ebene, die wir von verschiedenen Autoren
in den Arzneimittellehren beschrieben finden; jene Ebene, über die
man mit Kollegen diskutieren kann und bei der man versucht, im Laufe der
Zeit ein immer deutlicheres Bild des Mittels herauszuarbeiten, das uns
einen Konsens darüber ermöglicht, was wir in der Homöopathie
meinen, wenn wir über Nux vomica sprechen. Dann gibt es eine andere,
eine spezifischere und persönlichere Ebene, etwas, was zu der charakteristischen
Art und Weise eines jeden einzelnen Homöopathen gehört, einen
Nux vomica-Patienten zu erkennen. Ein jeder von uns setzt sich auf eine
absolut spezifische Weise zu seinen Patienten in Beziehung. Die Wahrnehmung
unserer spezifischen Reaktion angesichts eines Nux vomica-Patienten ist
keine Frage der Magie, sondern schlicht die Erkenntnis darüber, wie
wir funktionieren. Das ist nicht übertragbar, es ist eine Analogsprache
und als solche kann sie nicht reduziert werden auf etwas, was man niederschreiben
kann oder über das man sprechen kann. Es ist eine einmalige und charakteristische
Erfahrung für jeden einzelnen Homöopathen, dessen Wissen und
Erkenntnis jedoch genauso wichtig ist wie die Kenntnis und Erkenntnis
dessen, was wir in den besten Arzneimittellehren lesen.
Also stehen für Sie die Gemütssymptome
- ich frage Sie noch einmal, weil ich diesen Punkt für sehr wichtig
halte - nicht unbedingt an der Spitze, beim Repertorisieren?
Nicht eigentlich. Die mentalen Symptome eines Patienten sind eine Sache,
hinsichtlich derer ich eine Entwicklung und eine bestmögliche Form
der Modifizierung erwarte. Aber das bedeutet nicht, daß die mentalen
Symptome dieses Patienten notwendigerweise die charakteristischsten Symptome
des Arzneimittels sind, das ich in diesem Fall in Betracht ziehe. Viele
Mittel haben nur deswegen keine charakteristischen mentalen Symptome,
weil man sie nicht kennt. Andere Mittel haben keine charakteristischen
mentalen Symptome, weil sie sich nicht in charakteristischer Weise durch
mentale Symptome ausdrücken, sondern vielleicht durch eine charakteristische
Form von Schmerz. Etwas zu suchen, was nicht vorhanden ist, dient nur
dazu, die Illusion zu vermitteln, ein Mittel zu verschreiben, das man
zu kennen glaubt.
Wenn Sie auf ein Mittel wie z . B. "Alloxanum"
kommen, wie haben Sie es dann repertorisiert?
Ich denke, daß es vor allem wichtig ist, zu klären, wie man
das Repertorium nutzen kann. Es handelt sich um ein sehr nützliches,
aber meiner Meinung nach obsoletes Instrument. Trotz der tätigen
Bemühungen von Kollegen, die seit Jahren mit Leidenschaft in ihrem
Beruf arbeiten, ist das Repertorium, so, wie es konzipiert worden ist,
voller Ungenauigkeiten. Es ist wahr, daß dieses Instrument im Lauf
der Zeit immer umfangreicher wird, weil immer mehr Daten über die
Arzneimittel zur Verfügung stehen. Die Gefahr dabei ist, daß
wir eines Tages eine ungeheure Menge Daten, aber wenige wirklich nützliche
Informationen haben. Ich glaube, es ist wichtig, eine Synthese der wirklich
wesentlichen Anschauungen vorzunehmen; genauso wichtig ist eine aufmerksame
Bewertung der Symptome, die hinzukommen. Ich verwende und betrachte das
Repertorium in gleichem Maße wie auch alle anderen Bücher.
Wenn Du einmal zurückdenkst, so sind wir ja dazu gekommen, ein Buch
wie dieses Repertorium herzustellen, weil die Symptome aus den Arzneimittellehren
nicht so ohne weiteres auffindbar sind. und nun, wo der Computer ein solch
populäres Instrument geworden ist, ist es leichter möglich,
präzisere Informationen zum Repertorium aus "Quellen" zu
beziehen, direkt aus den Büchern, und ich hoffe, in Zukunft vor allem
aus erfolgreich behandelten klinischen Fällen. Aber zurück zu
Ihrer Frage. Dazu muß ich einige Auffassungen klarstellen. Es gibt
Fälle, in denen Du soviel Glück haben kannst, daß Du eine
beträchtliche Anzahl von deutlichen Symptomen für Alloxanum
findest, und es kann sein, daß diese Symptome auch im Repertorium
enthalten sind. Aber das geschieht sehr selten. Ich glaube, daß
es sehr wichtig ist, eine Vorstellung davon zu haben, wie Alloxanum sich
zeigen kann und welchen anderen Arzneimitteln es ähnlich sein kann.
Beim Studium von Alloxanum bin ich zunächst zu der Ansicht gelangt,
daß dieses Mittel sehr viel mit Sepia und mit Natrum muriaticum
gemeinsam haben könnte. Von dieser Überlegung ausgehend versuche
ich, wenn bei einer Repertorisation auch ein oder zwei Symptome von Alloxanum
auftauchten und andere Symptome, die dieses Mittel nicht abdeckt, die
aber für Natrium oder für Sepia vorliegen, gründlicher
nachzuforschen. Wenn ich beim Patienten die Gesichtspunkte, die ich für
charakteristisch und unerläßlich für die Verschreibung
von Sepia oder Natrium halte, nicht finde, dann ziehe ich Alloxanum näher
in Betracht, auch dann, wenn ich nur ganz wenige Symptome für dieses
Mittel habe. Danach versuche ich, eine gründlichere Erforschung dieser
Arznei vorzunehmen, um zu sehen, ob auch Symptome toxikologischer oder
pharmakologischer Art vorliegen, die meine Vermutung untermauern könnten
oder mir für den betreffenden Patienten irgendwelche Anregungen geben
könnten. Wenn die Verordnung Erfolg gebracht hat, dann kann ich dem
Patienten viele direkte Fragen stellen, um eine immer genauere Vorstellung
zu bekommen. Wenn es mir schließlich gelingt, mehr als einen Patienten
erfolgreich zu behandeln, dann versuche ich zu verstehen, welche Aspekte
diese Patienten gemein haben. Nur so kann ich diese Symptome in mein Repertorium
aufnehmen, und wenn ich feststelle, daß es verläßliche
Symptome sind, dann veröffentliche ich sie. Ich glaube, daß
es wichtig ist, das Repertorium auch im ausschließenden Sinne zu
verwenden. Ich suche einerseits das, was von einem Arzneimittel vorhanden
ist, so wie ich auch dem Wichtigkeit beimesse, was von einem Arzneimittel
eben nicht vorhanden ist. Aus diesem Grunde benutze ich sehr oft die Repertorien.
Wenn ein deutliches Symptom für ein wohlbekanntes homöopathisches
Arzneimittel in einem Repertorium nicht enthalten ist, dann bedeutet das,
daß dieses Arzneimittel das entsprechende Symptom wahrscheinlich
nicht beinhaltet - dies trifft häufig für die Polychreste zu.
Wenn ein deutlich vorhandenes Symptom jedoch für ein wenig bekanntes
Arzneimittel nicht notiert ist, dann ist dies nicht von so großer
Bedeutung, weil dieses Mittel noch nicht genügend erforscht worden
ist. Doch wenn ein kleines Mittel mit wenigen deutlichen Symptomen angezeigt
ist, dann ist dies sehr von Nutzen.
Der wichtigste Punkt ist also immer, daß
man die "Essenz "eines Mittels verstanden hat, bevor man es
verordnet?
Gewiß. Ich glaube nicht, daß diese Auffassung so ganz neu
ist, seit Jahren versuchen fast alle Homöopathen, dies zu tun. Auch
hier denke ich wieder, daß das Konzept von der " Essenz"
sich auf das Beobachtungsmodell bezieht, das wir anwenden, insofern, als
dieses Beobachtungsmodell auf mehr oder weniger tiefgehende Weise die
Symptome, die wir beobachten, bewertet. Es ist ein Bedürfnis des
Menschen, der Wissenschaftler und der Ärzte, die Phänomene,
die sie beobachten, zu klassifizieren; ich glaube nicht, daß dies
ein Bedürfnis der Natur ist. Was mich beunruhigt, ist die Tatsache,
daß oft die Darstellung von Konzepten als das "Wesen eines
Heilmittels" bedeutet, eine simplifizierende und unsynthetische Beschreibung
dieser Substanz zu geben. Ein großer Reichtum der Homöopathie
ist ihre genaue Beschreibung äusserst vieler möglicher Variablen
im Hinblick auf ein gemeinsames Thema. Aus diesem Grund bleibe ich bei
der Überlegung, daß ich es für wichtig halte, das Vorhandensein
einer Art von "gemeinsamem Wesen" bei einigen Heilmitteln zu
bewerten, das, was ich eine "Familie" von Heilmitteln nenne.
Im Innern dieser Familie, glaube ich, ist es wichtig, das zu differenzieren,
was Du das spezifischere Wesen einer jeden einzelnen Substanz nennst.
Wenn wir mit Mittelgruppen, wie z. B. den
Spinnen - Mitteln arbeiten, dann wissen wir, daß es Unterschiede
zwischen den verschiedenen Spinnen gibt. Gibt es aber auch so etwas wie
einen gemeinsamen Nenner, der bei allen Mitgliedern dieser Gattung vorzufinden
ist?
Ja, das glaube ich. Genau das liegt meiner Auffassung von der "Heilmittelfamilie"
zugrunde. In den letzten Jahren arbeiten einige von uns Homöopathen
zwar mit unterschiedlichen Vorstellungen, aber doch über ein ähnliches
Konzept. Ich glaube, daß gegenwärtig niemand von uns über
eine Arbeitshypothese hinaus etwas Präziseres formulieren könnte,
da wir erst am Anfang dieses Prozesses stehen und es einiger Jahre klinischer
Bestätigung bedarf, um diesen neuen Ideen einen Sinn zu geben. Darin
bin ich sehr pragmatisch, und auch wenn ich gerne über neue Hypothesen
arbeite, so halte ich doch eine Bestätigung der klinischen Daten
für unerläßlich, vor allem innerhalb einer Medizin wie
der unseren, wo es wirklich zu viele intellektuelle Spekulationen gibt.
Von meinem Standpunkt aus halte ich es für sehr nützlich, die
Familien der Heilmittel als einen Ausgangspunkt für eine präzisere
Differentialdiagnose zu betrachten. Ich wiederhole, daß es meiner
Meinung nach ein Bedürfnis von uns ist, in irgend einer Weise die
Realität, die uns umgibt, zu klassifizieren, und ich glaube, daß
es unvermeidlich ist, unsere Behandlungsmöglichkeiten zu erweitern
und zuverlässiger zu machen. Folglich wird das Bedürfnis, die
Heilmittel auf der Grundlage ihrer möglichen Verwandtschaft in Gruppen
zusammenzufassen, zu einer logischen Konsequenz; andernfalls sähen
wir uns nämlich einer ungeheuren Menge infragekommender und potentiell
zu verschreibender Heilmittel gegenüber. Ich wiederhole noch einmal,
daß das Grundproblem das Beobachtungsmodell ist, die Beschreibung
dessen, was man als "ähnlich" bewertet und definiert; andernfalls
wird jede beliebige Klassifizierung in Familien möglich und verliert
dadurch an Bedeutung. Ich habe den Eindruck, daß in vielen Situationen
das vorherrschende Modell das "Zwiebelmodell" ist, bei dem man
oft den Fall durch Beifügung von Symptomen analysiert, indem man
eine Art Verzeichnis von Symptomen erstellt, die zu guter letzt von der
durch die Repertorisation indizierten Heilmittel abgedeckt werden müssen,
wie auch immer diese aussehen. Die Arbeit, die ich zu machen versuche,
ist eine vertiefte Analyse dessen, was die wesentlichen und wirklich charakteristischen
Züge einer jeden Gruppe der Substanzen ausmacht, und dann, weiter
in die Tiefe gehend, was für jedes einzelne Mittel spezifisch zu
sein scheint. Eine Betrachtensweise dieser Art funktioniert nicht, wenn
man algebraisch einfach die Symptome, die man ermittelt, addiert; man
muß vielmehr versuchen festzustellen, welche Beziehung zwischen
den Symptomen besteht, wie sich der Patient an sie anpasst und welche
Heilmittel ihm geholfen haben. Wie schon gesagt stehe ich erst am Anfang.
Ich glaube, daß ich in den letzten fünfzehn Jahren eine ganz
gute Arbeit über Dutzende Familien von Heilmitteln geleistet habe,
aber es liegt noch ein weiter Weg vor mir, und ich glaube nicht, daß
ich das Ziel alleine erreichen kann. Glücklicherweise hilft mir eine
Gruppe fähiger Kollegen. Wenn wir auf Ihr Beispiel der Spinnen zurückkommen,
so gibt es dortviele "Hintergrundthemen", von denen ich glaube,
daß sie charakteristisch für die Familie der Spinnen sind.
Innerhalb derselben schaue ich dann, was wirklich spezifisch für
jedes einzelne dieser Spinnenmittel ist. Ich beachte, daß nicht
nur die Spinnen zu dieser Familie gehören. Zum Beispiel haben auch
andere Heilmittel, vom physischen Standpunkt aus, das heißt von
der Substanz her betrachtet, aus der das Heilmittel hergestellt wird,
überhaupt keine Ähnlichkeit mit Spinnen, aber sie weisen dennoch
eine interessante Affinität zu dem auf, was die "gemeinsamen
Hintergrundthemen" anbelangt. Abwehr- und Anpassungsstrategien, Grundlagen
der Persönlichkeit, Art der Symptome. Aus diesem Grund ziehe ich
bei meiner Klassifizierung in Familien auch andere Heilmittel mit ein,
die zwar zu anderen Reichen oder verschiedenartigen botanischen Klassen
gehören, aber unter dem Gesichtspunkt der homöopathischen Symptomatologie
sehr ähnlich sind. Zum Beispiel glaube ich nicht, daß alle
innerhalb einer bestimmten botanischen Familie vorhandenen Heilmittel
sich wirklich ähnlich sind. Nach meiner Meinung trifft das für
einige zu, wohingegen andere überhaupt keine Ähnlichkeit aufweisen,
wieder andere scheinen sich ähnlich zu sein, aber lediglich an der
Oberfläche. Um Dir ein Beispiel zu geben: in die Familien der Schlangen
beziehe ich Heilmittel wie "Zincum phosphoricum" oder "Cimicifuga"
ein, zur Familie der Nachtschattengewächse zähle ich auch Heilmittel
wie "Lyssinum" oder "Gallicum Acidum". Natürlich
kann man darüber diskutieren, warum wir die Familie, in der sich
Zincum phosphoricum befindet, die Familie der "Schlangen" nennen:
es handelt sich lediglich darum, einer Gruppe von Substanzen, in der eines
der bekanntesten Heilmittel unter homöopathischem Gesichtspunkt Lachesis
muta ist, einen Namen zu geben. Man könnte sie genausogut Familie
"Nummer eins" nennen, oder ihr jeden anderen beliebigen Namen
geben. Auch in anderen botanischen Familien gibt es Heilmittel, die meiner
Ansicht nach unter homöopathischem Gesichtspunkt eine deutliche Affinität
zueinander haben. Tanacetum zum Beispiel halte ich für verwandter
mit anderen Heilmitteln, die unter die botanische Familie der Kompositen
oder Asterazeen eingeordnet sind. In der Tat scheint es mir dem Stramonium
sehr viel ähnlicher zu sein als der Chamomilla. Ich könnte Dir
viele Bespiele dieser Art nennen.
Manchmal ist es schwierig, zwischen den
Mitteln zu unterscheiden. Wäre es vielleicht eine Möglichkeit,
zunächst eine Mittelgruppe zu bestimmen, um dann darüber nachzudenken,
welche der zu dieser Gruppe zählenden Arzneien dann am geeignetesten
zu sein scheint?
Ich kann Dir ein Besipiel im übertragenen Sinn nennen. Wenn Du ein
Sternbild beobachtest, dann beschließt Du, eine gemeinsam von einigen
Sternen gebildete Figur zu betrachten. Ich denke nicht, daß wir
definieren können, wofür eine Arznei steht, wenn wir dies auf
der Basis nur eines einzigen Themas oder eines einzigen Symptoms versuchen
- d.h. auf unser Beispiel angewandt, indem wir nur einen einzigen Stern
beobachten. Hering selbst sprach von einem Dreifuß, aber ich glaube,
daß es sich dabei nur um ein Beispiel im symbolischen Sinne handelt,
weil es nicht immer ausreicht, nur drei Hintergrundkonzepte zu betrachten,
um ein Arzneimittel, und oft noch weniger eine homöopathische Familie
genau zu bestimmen. Wie bei einem Sternbild oft drei Sterne auch nicht
genügen, um es zu bestimmen. Es ist ein guter Ausgangspunkt, einen
Stern wiederzuerkennen, aber ohne die anderen Sterne hast Du nur den Teil
eines Bildes, das noch genauer bestimmt werden muß. Es wird oft
zu einem Gemeinplatz anzunehmen, daß das Gefühl der Verlassenheit
ein typisches Problem nur von Lachesis sei. Viele andere Mittel haben
ein ähnliches Problem, und alle Schlangen haben dasselbe Problem,
aber auf eine der Lachesis ähnlicheren Weise als es z. B. das Gefühl
der Verlassenheit bei Hura brasiliensis ist.
Gibt es gemeinsame Symptome, wie "Eifersucht"
oder "Geschwätzigkeit", die sich durch alle Schlangen -
Mittel ziehen?
Ja. Ich denke, es ist wichtig, von einigen dieser Beobachtungen auszugehen,
um sich eine genauere Vorstellung von dem Patienten und dem Mittel zu
machen, das ihm helfen kann. Um zum von Ihnen angeführten Beispiel
zurückzukehren, so glaube ich, daß Eifersucht und Geschwätzigkeit
wichtige Symptome im Verhalten vieler Schlangen sind. Aber wenn wir bei
diesem Beispiel bleiben, dann ist die Geschwätzigkeit der von den
"Crotaliden" herrührenden Heilmittel sehr viel anders als
die der "Elapiden". Während die Crotaliden im allgemeinen
eher egozentrisch sind, treten die Elapiden oft mit einer eher unsicheren
Persönlichkeit auf. Innerhalb der Elapiden unterscheiden sich dann
Naja und Elaps auch noch einmal im Hinblick auf die Art, wie sie die jeweilige
Unsicherheit zum Ausdruck bringen. Oft kann man Elaps mit Mitteln verwechseln,
die für ihre offensichtliche Schüchternheit bekannt sind wie
etwa Pulsatilla. Naja kann sehr oft mit den für Silicea typischen
Symptomen auftreten. Nichtsdestotrotz haben alle aus Schlangengift hergestellten
homöopathischen Mittel viele andere Symptome unbedingt gemeinsam,
aber ich halte es für einen schweren Irrtum, Lachesis als Paradigma
für alle anderen Schlangen anzusehen. Lachesis ist innerhalb seiner
Familie ein ganz eigenes Tier: es mag Ihnen zum Beispiel genügen
zu beachten, daß es "stumm" heißt, weil es nicht
wie die anderen Crotaliden die Klapper hat, obwohl es ein Crotalide ist
und sein Verhalten sehr viel aggressiver ist als das der Mehrzahl der
Schlangen, die wir in der Homöopathie verwenden. Entsprechend erscheinen
auch die Patienten, denen dieses Heilmittel zuträglich ist, im allgemeinen
als sehr egozentrisch und aggressiv, oft mit starken Machtproblemen, wie
Du es bei Elaps überhaupt nicht siehst. Trotzdem sind viele Symptome
von Lachesis aber Symptome, die alle Schlangen aufweisen, die wir verwenden,
mit dem Unterschied jedoch, daß viele dieser Symptome für diese
nicht genügend bekannt sind; nicht etwa, weil sie nicht vorhanden
wären, sondern einzig deshalb, weil wir nicht genügend Informationen
über die anderen Schlangen haben. Zum Beispiel haben auf oberflächlicherer
Ebene alle Schlangen-Patienten mehr oder weniger die gleichen Probleme
beim Schlucken, das gleiche Gefühl der Einengung, ähnliche Gefäßerkrankungen
und Gerinnungsstörungen sowie viele andere Affinitäten.
Benutzen Sie auch Hinweise oder Verhaltensweisen
lebender Schlangen, um es auf die Mittel, mit denen Sie arbeiten, zu übertragen?
Ich halte es für sehr wichtig, nicht nur im speziellen Fall der Schlangen,
Informationen ausserhalb unserer homöopathischen Literatur zu sammeln.
Ich glaube, daß die Prüfung nicht die einzige Möglichkeit
ist, um zu einer Vorstellung davon zu gelangen, welche Beziehung zwischen
einer bestimmten Substanz und dem Menschen oder den Tieren besteht. Ich
halte die Prüfungen für eine Art äußerst nützlicher
Forschung , die unerläßlich ist, bei der Erforschung von Symtomen,
wie wir es in der Homöopathie machen. Aber ich glaube auch, daß
jede gute Prüfung bis zur klinischen Bestätigung der Symptome,
die sie hervorgebracht hat, eben nur eine Prüfung bleibt. Es scheint
mir logisch, daß eine beliebige Substanz nicht als "Heilmittel"
angesehen werden kann, solange sie nicht mit guten Ergebnissen in der
Klinik angewendet worden ist. Meiner Ansicht nach ist die Prüfung
ein "Gesichtspunkt", ein grundlegender Gesichtspunkt für
den Homöopathen, aber ich persönlich ziehe es vor, nicht dabei
stehenzubleiben. Nicht zufällig sind die ersten Prüfungen homöopathischer
Arzneimitteln fast alle von bereits vorhandenen Vorkenntnissen über
die betreffende Substanz ausgegangen. Und diese Kenntnisse kamen aus den
unterschiedlichsten Wissensgebieten. Die gedankliche Vorstellung, und
manchmal auch die Intuition, die zu der Vermutung führt, daß
eine bestimmte Substanz zu einem Heilmittel werden könnte, entsprang
aus Kenntnissen der Toxikologie und Pharmakologie, aus der Anwendung von
Heilpflanzen oder verschiedenen Medizinen schon in der Antike - aus der
Tradition, manchmal aus Mythen, dem Volksglauben oder anthropologisch
zu bewertenden Phänomenen. Im Falle der Tarantula zum Beispiel hat
man jahrhundertelang geglaubt, daß eine bestimmte Art von Krankheit,
Choreomanie (Tanzwut) genannt, durch das Gift einer Spinne verursacht
würde, und daß diese Krankheit nur durch ein bestimmtes Ritual
geheilt werden könne, das hauptsächlich aus einer bestimmten
Art von Musik bestand. Die Quellen, aus denen wir unser Material entnommen
haben, sind äußerst unterschiedlicher Natur, und es ist ganz
und gar nicht einfach, eine plausible Erklärung für die Bedeutung
dieser Beziehung zwischen Mensch und Natur zu geben, ohne in Diskussionen
magischer oder philosophischer Natur hineinzugeraten, die heute leider
sehr weit entfernt von der akademischen medizinischen Wissenschaft zu
sein scheinen. Am Anfang meiner Untersuchungen war ich praktisch gezwungen,
außerhalb unserer homöopathischen Literatur zu forschen. Ich
empfand das Bedürfnis, mehr über die Arzneimittel zu erfahren,
die nicht ausreichend experimentell erprobt waren und infolgedessen in
der Klinik nicht verwendet wurden. Zu meiner großen Überraschung
habe ich festgestellt, daß es eine "Kohärenz" in
den unterschiedlichen "Beschreibungen" gibt, die der Mensch
von den verschiedenen Substanzen, die wir als Heilmittel verwenden, geliefert
hat. Es ist faszinierend zu sehen, wie wir das, was ich die "Hintergrundthemen"
eines jeden Heilmittels nenne, in der Toxikologie, in der Pharmakologie,
in der traditionellen Anwendung, ja sogar in den Volksmythen wiederfinden
können. Der Mensch hat versucht, seine Beziehung zur Natur, in der
er lebt, auf die unterschiedlichsten Arten zu beschreiben - von der Poesie
bis zur wissenschaftlichen Forschung - und oft treffen am Ende dieselben
Auffassungen wieder zusammen. Das ist der Zusammenhang, den ich suche,
wenn ich ein homöopathisches Arzneimittel erforsche. Jede Substanz
muß, um in unseren Augen als solche zu gelten, in einer Art "Struktur"
aufgebaut sein. Diese Struktur und die Umwelt, die sie umgibt, beeinflussen
sich gegenseitig auf dynamische Weise vermittels einer Reihe von Strategien,
die angewandt werden, um diese Substanz, so wie sie ist, zu erhalten.
Die Homöopathie mißt den endogenen Mechanismen für ein
System, die dazu dienen, dieses System im bestmöglichen Gleichgewicht
zu halten, eine vorrangige Bedeutung zu. Ein gutes Heilmittel stimuliert
diese Mechanismen und wir sagen, daß es "heilt". Die Erforschung
dieser Strategien in der Physiologie einer Substanz scheint mir den Strategien,
die in der Pathologie eines Systems angewandt werden, das mit dieser Substanz
geheilt wird, sehr ähnlich zu sein. Im Grunde sind genau das die
Phänomene, die wir während einer Arzneimittelprüfung und
während der klinischen Anwendung beobachten. Unser Problem, auch
angesichts einer gut durchgeführten Prüfung, ist immer der Versuch,
zu verstehen, was wirklich wichtig ist bei der Betrachtung, sonst bleibt
auch die beste Arzneimittelprüfung nichts anderes als eine Auflistung
von Symptomen, ohne jede Logik, ohne jede Organisation und ohne Seele.
Auf dasselbe Problem stoßen wir angesichts einer ähnlichen
Liste von Symptomen, die wir durch die Klinik bestätigt finden können.
Das große Problem bei den Polychresten ist, die Untersuchung von
tausenden von Symptomen vorzunehmen und eine vernünftige Synthese
herzustellen. Im Falle der sogenannten "kleinen Heilmittel"
ist das große Problem genau umgekehrt. Mein Untersuchungsmodell
beruht auf einer vertieften und erweiterten Erforschung der Substanzen,
die wir für die Herstellung eines homöopathischen Heilmittels
verwenden. Natürlich messe ich der Tatsache, daß die Symptome
der Prüfungen durch die Klinik bestätigt werden, allergrößte
Wichtigkeit bei, aber ich suche immer womöglich auch nach Informationen
außerhalb der Homöopathie. Meine Absicht ist es, zu einer Synthese
zu gelangen, die mir entweder hilft, die Vielfalt an nutzlosem Material
bei den Polychresten zu reduzieren, oder die Kenntnisse über die
weniger bekannten Heilmittel zu erweitern und zu präzisieren. Ich
möchte nochmals unterstreichen, daß am Ende dieses Prozesses
die Bestätigung dieser Hypothesen durch eine beträchtliche Anzahl
erfolgreich behandelter klinischer Fälle stehen muß. Andernfalls
wage ich nicht, von einem Heilmittel zu sprechen und nehme auch keine
Ergänzungen zu meinem Repertorium vor.
Könnte es ein Hinweis für die
Richtigkeit des Mittels sein, wenn jemand eine auffällige Abneigung,
oder umgekehrt, eine starke Sympathie für Schlangen oder Spinnen
aufweist?
Das glaube ich eigentlich nicht. Ich halte das für einen sehr oberflächlichen
Ansatz. Es stimmt zwar, daß ein Patient, der gut auf ein Arzneimittel
reagiert, das von einer Spinne stammt, eine enge Beziehung zu diesem Tier
hat, aber das trifft auch für viele andere Heilmittel zu. Ich glaube,
Hahnemann hatte Recht, als er gegen die oberflächliche und ungeeignete
Verwendung der "Kennzeichnungen" zu Felde zog, wie sie zu seiner
Zeit üblich war. Aber bis heute scheinen sich die Dinge leider nicht
sehr geändert zu haben. Ich persönlich meine, daß die
analoge Beziehung zwischen dem Menschen und der Natur, in der er lebt,
von wesentlicher Bedeutung ist, sonst könnten wir uns nicht erklären,
wie es möglich war, den therapeutischen Nutzen so vieler Pflanzen
zu kennen, ohne irgendwelche Kenntnisse von Chemie oder Pharmakologie
zu haben. Heute leben wir in einem Zeitalter der Wiederentdeckung und
der Aufwertung der Bedeutung von Analogien, die ich persönlich ohne
Einschränkung teile. Aber eine Analogbeziehung ist eine Erfahrung,
per definitionem ist es etwas, das man mit Worten nicht beschreiben kann,
ohne daß es in erschreckendem Umfang an Bedeutung verlöre.
Es ist kein Zufall, daß die Kulturen, die sich auf eine analoge
und "magische" Annäherung an die Natur stützen, diese
Kenntnisse überliefert haben, ohne sich der Schriftform zu bedienen,
sondern vielmehr der Verwendung von Symbolen den Vorzug gaben. Ich glaube,
daß es sehr riskant ist, den Begriff der Kennzeichnung auf dermaßen
banale Beziehungen zu reduzieren.
Es gibt viele gut bekannte Mittel, die in
bestimmten Fällen ziemlich zuverlässig helfen - Arnica bei Verletzungen,
Cantharis bei Sonnenbrand, Apis bei Bienenstichen usw.
Gibt es Beschwerden, bei denen man "kleine" oder unbekannte
Mittel mit derselben Wirksamkeit einsetzen könnte?
Das Beispiel, das Sie anführen, bezieht sich auf die akute und symptomatische
Anwendung einiger Arzneimittel für einige Beschwerden, die wir meiner
Meinung nach nicht als Krankheiten bezeichnen können. Außerdem
beschäftigt sich der homöopathische Ansatz per definitionem
mit den Kranken in ihrer komplexen Gesamtheit. Desungeachtet gibt es verschiedene,
wenig bekannte Arzneimittel, die ich in akuten und sehr genau beschriebenen
Situationen für wirkungsvoll halte. Mir kommt Bellis perennis in
den Sinn, das ich bei Brüchen oder Eingriffen am Uterus, auch bei
Tieren, mit besseren Ergebnissen einsetze als Arnica. Phellandrium und
Medusa, um die Milchproduktion zu stimulieren. Buthus australis bei akuten
Lebensmittelhepatitiden und gleichzeitigem Ikterus. Pituitaria anterioris
bei beginnenden Nickelallergien. Chininum sulphuricum in der Malariaprophylaxe.
Und viele andere, aber ich muß Ihnen gestehen, daß ich stets
eher zurückhaltend bin, mit der Nennung von Beispielen dieser Art.
Behandeln Sie Hauterkrankungen, wie z. B.
Neurodermitis, ebenfalls mit kleinen Mitteln?
Ich halte die Unterscheidung zwischen einem Polychrest und einem weniger
bekannten Heilmittel für sinnlos, sowohl unter einem mehr theoretischen
Gesichtspunkt als auch unter dem Aspekt meiner täglichen Praxis;
es handelt sich hier um eine rein numerische Frage. Vielleicht scheint
es Ihnen selbstverständlich, aber ich suche immer dasjenige homöopathische
Arzneimittel, das mir am geeignetsten erscheint. Ich habe die Angewohnheit,
jedes Jahr eine Überprüfung der Mittel vorzunehmen, die ich
am häufigsten verschreibe, und natürlich gibt es Unterschiede
auf der Grundlage dessen, was ich untersuche und besser zu kennen glaube.
Im wesentlichen sind mehr als 70% meiner Verschreibungen keine Polychreste,
und die Mehrheit der Patienten, die ich behandele, leidet unter schweren
chronischen Krankheiten.
Welche Bedeutung messen
Sie Symptomen zu, die auf der Haut erscheinen, z. B. "blutend, nach
Kratzen" oder "Absonderungen, gelb, honigartig"?
Haben diese Symptome Gewicht, oder beachten Sie sie weniger, weil sie
auf der Haut erscheinen?
Ich glaube, daß alle Symptome potentiell wichtig
sind, auch solche, die noch nicht im Repertorium enthalten sind, da sie
ausgezeichnete Informationen für eventuelle Erweiterungen desselben
darstellen, wenn sie klinisch bestätigt sind. Die Bewertung eines
Symptoms der Haut als weniger wichtig gegenüber einem tieferliegenden
Symptom ist etwas, mit dem ich nicht einverstanden bin. Die "Tiefe",
mit der Sie ein Symptom bewerten, ist lediglich eine Frage des Beobachtungsmusters,
das Sie anwenden. Offensichtlich ist es weniger schwerwiegend, an Juckreiz
zu leiden als an einer Depression, aber es gibt zahlreiche Fälle,
in denen ein Symptom auf der Haut das einzig mögliche sichtbare Anzeichen
für ein Leiden bei einem Menschen ist. Wie tiefliegend dieses Leiden
ist, ist nicht so einfach und unmittelbar zu bewerten. Und oft, auch nach
mehr als einer Konsultation, gibt es Dinge, die nicht zutage treten, und
das kann vielerlei Gründe haben. Das geht von der Beziehung zum Arzt
bis hin zur Typologie dieses bestimmten Patienten, dem vielleicht die
Worte fehlen, um sein "Übel" zu beschreiben. Vor allem,
wenn Du kleine Kinder, Tiere oder Patienten behandelst, bei denen sich
sehr früh ein großes Trauma ereignet hat, zu einem Zeitpunkt
nämlich, an dem es nicht möglich ist, verbal auszudrücken,
was passiert, zu einem Zeitpunkt, an dem das Bewußtsein nicht in
der Lage ist, etwas anderes herauszuarbeiten - dann kann ein Symptom der
Haut eine sehr großes Gewicht haben. Die Charakteristika eines bestimmten
Symptoms auf der Haut können bei der Hervorbringung von Symptomen,
die ein komplexeres Leiden des Systems ausdrücken, sehr hilfreich
sein und sind eben nicht nur das oberflächliche Bild eines isolierten
Symptoms. Ich glaube aber trotzdem, daß dies sehr schwer zu verallgemeinern
ist, jeder Fall ist eine Geschichte für sich.
Was ist der wichtigste Punkt, den Sie während
Ihrer Praxisarbeit lernen mußten?
Ich glaube, daß ich dem Studium der Homöopathie zuviel Bedeutung
beigemessen habe in bezug auf die Zeit, die ich dazu aufgewendet habe,
um mich hinsichtlich der Beziehung zu meinen Patienten auszubilden. Gewiß
zwingt mich die Leidenschaft für die Medizin und die Homöopathie
jeden Tag zur Konfrontation mit meiner eigenen Unwissenheit. Angesichts
dieses Fasses ohne Boden scheint das, was ich lerne und zu kennen glaube,
nie genug zu sein. Im Laufe der Zeit denke ich anders über meine
Mißerfolge, und meiner Meinung nach ist es nicht möglich, ein
ganzes Leben lang zu meinen, es handele sich nur um die Frage, das "beste
Arzneimittel" zu kennen, und einfach nur noch mehr lernen zu müssen.
In der Geschichte der Menschheit bis heute hat es so viele unterschiedliche
Auffassungen von der Medizin und der Kunst des Heilens gegeben, und noch
viele weitere werden dazukommen. Der einzige gemeinsame Nenner all dieser
Arten von Medizin, die oft Kriterien aufweisen, die sich in augenscheinlichem
Gegensatz zueinander befinden, ist die Tatsache, daß es da jemanden
gibt, der um Hilfe bittet, und einen anderen, der glaubt, ihm diese Hilfe
geben zu können. Was zwischen diesen beiden Personen passiert, ist
etwas sehr Komplexes, das wir noch nicht erforscht haben, und das meiner
Meinung nach bis aufs Letzte sehr schwer zu verstehen ist. Nach meiner
Ansicht hat sich die Homöopathie niemals ausreichend für dieses
Problem interessiert, und auch heute noch, zweihundert Jahre nach ihrer
Entstehung, und ein Jahrhundert nach den sonstigen grundlegenden Entdeckungen
auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Medizin und Psychologie scheint es
immer noch so, als wäre das Höchste an Wissenschaftlichkeit
bei unseren Forschungen, zu überprüfen, ob die Arzneimittel
auf isoliertes Gewebe wirken oder ob es möglich ist, dieselben Kriterien
der statistischen Untersuchung anzuwenden wie die konventionelle Medizin.
Ich glaube, wir müssen hier noch sehr viel mehr tun und uns wirklich
einem ensthafteren und wissenschaftlicheren epistemologischen Modell zuwenden.
Was ich in all den Jahren gelernt habe ist, daß es zu vieles gibt,
was ich nicht weiß, und daß ich nicht alle Patienten heilen
kann, die mich um Hilfe bitten. Anfangs hat mich das sehr deprimiert,
jetzt empfinde ich das mehr als einen Anreiz, weiterzumachen, ohne zu
denken, einfach nur mehr lernen zu müssen. Ich habe mir viele Gedanken
gemacht um das, was ich nicht wußte, jetzt akzeptiere ich mit weniger
Unbehagen, daß ich trotz allem mein ganzes Leben lang vor einem
Geheimnis stehen werde.
(Quelle:
www.mangialavori.it) |